Hintergrundbericht


Elend hinter fröhlichen Clownsgesichtern

Kinderarbeit in indischen Zirkussen

Akrobaten, Manege, Elefanten, Clowns -  Die magische Welt des Zirkus lässt Kinderaugen strahlen und weckt bei Erwachsenen sentimentale Erinnerungen. Es ist schwer vorstellbar, dass dieses romantische Bild in Indien oft Maskerade ist. Artisten in Indien sind häufig Kinder, in der Mehrheit Mädchen, die Opfer von Missbrauch und Ausbeutung sind.

 

Bhawna, ein 14-jähriges Mädchen aus Nepal wurde in einer Razzia am 15. Juni 2004 von BBA/SAACS, dem indischen bzw. südasiatischen Partner von Global March Against Child Labour, befreit. Niemals hätte sie sich vorstellen können, dass das Leben einmal so brutal zu ihr sein würde, als sie vor zwei Jahren zum Great Roman Circus kam. Schon am ersten Tag zeigte man ihr, was sie von der Zukunft zu erwarten hatte: „Den ganzen Tag bekam man Schläge und Prügel, für den kleinsten Fehler. Sie drohten, mich in den Löwenkäfig zu werfen. Nachts rief mich der Zirkusaufseher in sein Zelt und belästigte mich. Das alles passierte Tag für Tag. Ich hatte keine Zeit zum Ausruhen. Wenn ich nicht beim Training war, musste ich Geräte saubermachen und Wäsche waschen. Zu essen gab es nur Reis und Dal.“

 

Mädchen aus Nepal bevorzugt

Von Juli 2002 bis Januar 2003 führte BA/SAACS eine Umfrage zum Thema Kinderarbeit in indischen Zirkussen durch. Das Team befragte fast 7,500 Angestellte in 30 der größten Zirkusse in Indien. Sie stellten fest, dass dort mehr als 250 Kinder in der Altersgruppe 5-14 arbeiteten. 80% davon waren Mädchen und fast die Hälfte wiederum kam aus Nepal. Der Erfolg der Alphabetisierungskampagne in den frühen 90ern in Kerala, woher indische Zirkusartisten traditionellerweise stammen, machte die Erschließung neuer Anwerbungsquellen notwendig.

 

 

Indische Zirkusse bevorzugen heute Mädchen aus Nepal wegen ihres exotischen Aussehens und ihrer Gelenkigkeit. Entscheidend jedoch ist, dass sie aus einem anderen Land kommen und gesetzmäßig nicht in den Zuständigkeitsbereich Indiens fallen. Außerdem stammen sie alle aus bitterarmen Verhältnissen, haben keine Bildung und sind deshalb leicht auszubeuten.

 

Das Leben ist ein brutaler Zirkus

In fast allen Zirkusunternehmen, die BBA/SACCS besuchte, waren die Lebens- und Arbeitsbedingungen bedauerlich: Kaum Platz, 20-25 Leute zusammengepfercht in einem kleinen Zelt, kärgliche Mahlzeiten, Arbeitszeiten vom Morgengrauen bis Mitternacht, und völlig unzureichende sanitäre Anlagen, die alle Arten von Krankheiten fördern. Trainingseinheiten sind rigoros und in der Regel geprägt von verbalen und pysischem  Missbrauch. Die regelmäßig auftretenden Verletzungen bleiben unbehandelt. Es gibt keinen Schulunterricht, kein Spielen, kein Ausruhen und keinen Kontakt mit der Außenwelt. Aufgrund des brutalten Verhaltens des Zirkusmanagements und des ständigen Unterwegsseins der Truppe verlieren die meisten Kinder den Kontakt zu ihren Eltern. Neben kärglichem Lohn werden die Lohnzettel der Kinder häufig manipuliert. Im schlimmsten Fall halten die Manager die Löhne zurück mit der Behauptung, das Geld würde nur ausgezahlt, wenn die Eltern der Kinder zu Besuch kämen – was selten passiert.

 

Gefesselt durch Vertrag – Warum Eltern ihre Kinder aufgeben

Die Kinderartisten werden vertraglich für drei bis zehn Jahre gebunden. Haben die Eltern dem Vertrag einmal zugestimmt, werden die Kinder praktisch unfrei und stehen in der Schuld des Zirkusmanagements. Bei einem großen Teil handelt es sich um nepalesiche Mädchen, die aus den zentralen Regionen Nepals mit dem Versprechen eines besseren Lebens nach Indien gelockt werden. Nepals extreme Armut und lasche Grenzkontrollen erleichtert das Leben von Agenten und Mittelsmännern im Kinderhandel. Kinderhändler machen den Eltern falsche Versprechungen von plötzlichen Wohlstand und einer besseren Zukunft und geben ihnen Geld. Oft ist die Entsendung von Töchtern und Schwestern nach Indien für die Angehörigen sogar ein Familiengeschäft, da es der einzige Weg ist, ihre Armut ein wenig zu lindern. Ein Großteil der indischen Kinder, etwa 33%, wird in West Bengal angeworben.

 

Indische Zirkusunternehmen von Kinderarbeit befreien  – Der BBA/SAACS Ansatz

BBA/SAACS arbeitet seit über 20 Jahren daran, alle Formen von Kinderarbeit in Indien und Südasien abzuschaffen. Die Organisation nahm sich der Sache der Zirkuskinder im Jahr 2002 an und hat seitdem etwa 100 Kinder aus verschiedenen Zirkussen in Indien befreit.

 

Die BBA/SACCS Umfrage macht deutlich, dass das Problem von Kinderarbeit in indischen Zirkussen klar zu erkennen ist, Kinderartisten können nicht vor der Öffentlichkeit versteckt werden. Rechtliche Interventionen brauchen Zeit und eine nachhaltige Lösung durch rechtliche Maßnahmen oder durch Razzien und Rückführung kann nicht auf konfrontativem Wege erreicht werden. Konfrontation ist nur ein letzter Ausweg. BBA/SACCS hat einen mehrfachen Ansatzt zur Bekämpfung von Kinderarbeit gewählt, der zwei entscheidende Faktoren berücksichtigt:

 

1.        Die Quelle von Kinderarbeit

2.        Den Markt für Kinderarbeit

 

Lokale Aufklärungsbüros

Um das Problem der Anwerbung zu lösen hat BBA/SACCS intensiv an den Orten recheriert, aus denen eine Mehrheit der Zirkuskinder kommt. Im Juni 2003 eröffneten sie mit ihrem nepalesischen Partner, der Nepal Child Welfare Foundation, ein Büro in Hetauda, dem Hauptdistrikt von Makwanpur. Innerhalb nur eines Monats konnten die lokalen Mitarbeiter 30 Zirkusrückkehrer zu ihrer Anwerbung und ihren Erfahrungen interviewen. Das Büro leistet heute auch wertvolle Aufklärungsarbeit über Kinderarbeit in indischen  Zirkussen. Nach dem erfolgreichen Vorlbild in Nepal führte BBA/SAACS im September 2003 in West Bengalen ähnliche Interviews durch und eröffnete ein weiteres Büro.

 

Dialog und Verhandeln mit den Zirkusunternehmen

Aufgrund dieser Erkenntnisse hat sich BBA/SAACS entschieden, mit den Zirkusleuten Verbindung aufzunehmen und sein Anliegen durch Dialog und Verhandeln zu vermitteln. Das Hauptziel ist, die Zirkusunternehmen vollständig von Kinderarbeit zu befreien und den Kindern den Zugang zu Bildung und Berufstraining zu verschaffen und sie mit ihren Eltern wieder zusammenzubringen.

 

Die Vermittlungsbemühungen gipfelten in der ersten „All India Circus Conference (AICC)“ im August 2003 mit Teilnehmern aus 16 Zirkusunternehmen, dem Präsident der Indian Circus Federation (ICF) und dem Vorsitzenden von BBA/SAACS und Global March. Alle Teilnehmer verpflichteten sich, keine weiteren Kinder anzuwerben und die noch arbeitenden Kinder in annehmbaren Fristen freizugeben.  Der Dialogprozess führte schließlich zur ersten freiwilligen Freilassung von Kindern aus indischen Zirkussen im Januar 2004. BBA/SAACS und die Indian Circus Federation unterzeichneten eine Deklaration zur Abschaffung jeglicher Kinderarbeit in indischen Zirkusunternehmen.

 

Zirkus-Razzien als letzter Ausweg

Nach der Freilassung der Kinderartisten erhielt BBA/SACCS Beschwerden von einigen nepalesischen Eltern, deren Kinder seit mehr als 10 Jahren in indischen Zirkussen festgehalten wurden und die sie niemals sehen durften. Ein Großteil der Beschwerden betraf den Great Indian Circus, der zu dieser Zeit in Kerala weilte. AM 17. April 2004 führte BBA/SAACS dort mit Unterstützung der Distriktbehörden eine Razzia durch und konnte 21 Kinder und 8 Erwachsene aus der Schuldknechtschaft befreien. Sie alle wurden zurück nach Nepal geschickt, mit ihren Eltern zusammengebracht und konnten mit Hilfe von NCWF ihre Rehabilitation beginnen.

 

Auf Veranlassung einiger Eltern suchte Kailash Satyarthi und sein Team am 15. Juni 2004 den Great Roman Circus nahe Lucknow in Nordindien auf. Auf Ihre Bitte hin wurden sie widerwillig von einem örtlichen Sub-Divisional Magistrate und einigen Polizisten begleitet. Der Zirkusbesitzer und seine Leute, offensichtlich im vorhinein informiert über die geplante Razzia, griff das Team mit Eisenstangen und Pistolen an. Die anwesenden Offiziellen von Behörden und Polizei schauten untätig zu.  Das Rettungsteam, einschließlich der begleitenden Eltern, wurde brutal verprügelt und zum Teil schwer verletzt. Nur die 14-jährige Bhawna konnte an diesem Tag befreit werden.

 


Kinder werden während der Razzia vom Besitzer des Great Roman Circus vorgeführt

 

Dieses Beispiel zeigt nicht nur die Gewaltbereitschaft einiger Zirkusunternehmer, sondern macht auch das weit verbreitete Problem der Korruption von indischen Behörden deutlich.

 

Kinderarbeit in Indien

Kinderarbeit ist ein großes Problem in Indien. Die Zahl der Kinderarbeiter ist in Indien höher als in jedem anderen Entwicklungsland. Laut einer Volkszählung der indischen Regierung aus dem Jahr 2001 gibt es 12,6 Millionen Kinderarbeiter in Indien, etwa 10% aller Kinder zwischen fünf und vierzehn Jahren. Der Begriff Kinderarbeit gilt für Kinder, die aufgrund ihrer Abeit keinerlei oder sehr unregelmäßigen Zugang zu Bildung haben. Angesichts der hohen Rate von Kindern, die nicht zur Schule gehen, etwa 35 Millionen zwischen sechs und vierzehn Jahren, wird die tatsächliche Zahl von Kinderarbeitern sehr viel höher eingeschätzt. Arbeitende Kinder sind ein alltägliches Bild in Indien: man sieht sie als Träger, Bettler, Verkäufer, Lumpen- und Müllsammler und Viehhirten. Sie schuften in der Produktion in Fabriken, im Handwerk und in Steinbrüchen. Studien zeigen, dass entgegen landläufiger Annahmen 90 % der Kinderarbeiter in ländlichen Gebieten anzufinden sind und in der Landwirtschaft arbeiten.

 

Die indische Verfassung verurteilt Kinderarbeit eindeutig und fordert Maßnahmen zu ihrer Beendigung. Die Regierung hat 1986 den Child Labour (Prohibition and Regulation) Act verabschiedet, der Kinderarbeit in allen gefährlichen Industrien und Arbeitsprozessen verbietet. Das Gesetz jedoch stuft nicht jede Form von Kinderarbeit als illegal ein und hält sich nicht an die Richtlinien der Internationalen Arbeitsorganisation bezüglich des Mindestalters für Beschäftigung, das bei 15 Jahren liegt. Im Jahr 2003 verabschiedete das Parlament den 93. Zusatz der indischen Verfassung. Der Zusatz gewährt jedem Kind in Indien das fundamentale Recht auf Grundbildung. Dies ist ein großer Schritt in Richtung „Bildung für alle“, ein Ziel, das bis zum Jahr 2015 erreicht werden soll. Es verpflichtet Eltern, dafür zu sorgen, dass ihr Kind zur Schule geht. Doch dieses Ziel erfordert zu aller erst den politischen Willen, Kinderarbeit wirklich zu beseitigen und die dafür notwendigen Bedingungen zu schaffen, Schulen zu bauen, qualifizierte Lehrer bereit zu stellen und Armut zu bekämpfen. Bis dahin ist es noch ein weiter Weg.

 

Für weitere Informationen, Photos und eine Kopie der BBA/SAACS Studie “Eliminating child labour from Indian circuses“ kontaktieren Sie bitte:

 

Claudia Bierth

Global March Against Child Labour

L-6, Kalkali, New Delhi-110019, India

Phone: (+91-11) 2622 4899, 2647 5481

Fax: (+91-11) 2623 6818

Email: media@globalmarch.org, cbierth@hotmail.com